Michèle Pagel
Creature of Habit / Creature of Love
Boltenstern.Raum
Sep 18th 2021 – Nov 27th 2021

Michèle Pagel Cry Baby 2021 Brick, glaze, cement, metal, ceramic, light bulb, resin, cardboard, concrete, Ytong base, faux fur 215 (H) x 150 x 62 cm approx.
Michèle Pagel Das Nest 2021 Brick, glaze, adhesive mortar, painted wooden window, steel 126 x 97 x 26 cm
Michèle Pagel Girlfriend Material 2019 Ceramic, glaze, adhesive tape, cardboard, metal, brick, artificial leather 110 x 92 x 47 cm
Michèle Pagel Prosperity 2018 Mixed media 96 x 46 x 37 cm
Michèle Pagel Untitled (Sleeping Flamingo) 2021 Bricks, glaze, adhesive mortar, painted steel 108 x 56 x 40.5 cm


Ausstellungstext

Pagels Plastiken sind zumeist kritische Reflexionen über die Randbedingungen von Freiheit und Selbstbestimmtheit. Sie setzt für ihre Arbeiten hauptsächlich Keramik, Metall, Beton und gefundene Objekte ein. Ihre vorwiegend figurativen Skulpturen sind oft Allegorien aus unserer unmittelbaren Alltagswelt, die Lebewesen im Schatten ihrer Umstände und im Licht ihrer Aspirationen zeigen. 

Pagel scheut keine Inhaltlichkeit, ihre Kritik ist aber nicht Empörung und Kettenrasseln, sondern ein willkommener Paradigmenwechsel, der die eingeschlafene Wahrnehmung gegenüber missbräuchlichen Verhältnissen wachrüttelt. Mit fest in sich geschlossenen Werken übt sie eine tief gehende Kritik an der Gewohnheit, der Traditionen und dem Regulativ, und übernimmt dabei weder die Rolle von Opfer, Täterin, Klägerin oder Richterin, sondern beobachtet und berichtet vom Standpunkt der genommenen Freiheit aus.
(…)
Das Normale, Alltägliche, Omnipräsente wird von Michèle Pagel in jener fragwürdigen Absurdität vorgeführt, die sich eben nur in bestimmten Momenten und Konstellationen offenbart. Sie weist allerdings nicht auf die bestimmten banalen Momente selbst hin, sondern nur darauf, dass wir uns längst ans Schlimmste gewöhnt haben. Die Schwere der Inhalte – kreisen sie doch um alles gewohnheitsmäßig Vernachlässigte – löst sich in gewitzten Begriffskonstellationen und dem Spiel mit harmonischer Schönheit auf. Zwischen der Schwere des Materials und der Leichtigkeit der Geste spannt sich ein Netz von inhaltlichen Zusammenhängen und Gegensätzen, während auf der Ebene des Bildlichen und Figurativen das vordergründig Banale und Alltägliche hintergründig zwischen Schauder und Aberwitz oszilliert. Im Ganzen allerdings spotten die Plastiken selbst über ihre eigene Harmonie und Schönheit, ihre Erhabenheit und ihren Witz. Ein Kunstgriff, der ihnen ein Eigenleben und eine natürliche Gewachsenheit verleiht, jenseits der Täuschung.  

Es mag daran liegen, dass die Werke vernunftmäßig und emotional, kunsthistorisch und diskursiv, ästhetisch und materiell zumeist ganz leicht zugänglich sind, dass sich sich emphatisch als Kunstwerke erweisen und sich nichts an ihnen dem Betrachter/der Betrachterin entziehen will. „Die Wahrheit ist jedem zuzumuten“, schrieb einst Ingeborg Bachmann und „Die Wahrheit ist so klar wie eine Watschen“ Ludwig Wittgenstein. Aus solcher Denk-Tradition nährt sich Michèle Pagels Schaffen ganz offensichtlich. Ihre Akkuratesse und Präzision dienen einer selten anzutreffenden Anschaulichkeit von Kritik an überkommenen Werten, verwahrlosten Machtverhältnissen und systematischen Irrwegen. 

Text: Thomas Brandstaetter