Fast
Die Abstraktion der Sarah Morris
Martin Prinzhorn
Die unbewussten, „frühen“ Prozesse in der visuellen Wahrnehmung, die sich primär mit den physischen Eigenschaften der Umgebung befassen – also noch nicht mit tatsächlicher Objektwahrnehmung oder der Bedeutung des Wahrgenommenen -, zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie nicht einzelne Teile des Blickfelds in einer Abfolge abarbeiten, sondern gleichsam in einem Schritt das gesamte Blickfeld einer schnellen, rohen Analyse unterziehen. Die Gesamtheit und gleichzeitige Schnelligkeit einer solchen Verarbeitung wird einerseits dadurch ermöglicht, dass dabei verschiedene parallele Prozesse für verschiedene isolierte Aufgaben wie die Wahrnehmung von Grenzen und Übergängen, von Materialeigenschaften, von Farben, von Dreidimensionaltiät und so weiter zuständig sind. Andererseits wird dem Problem des „Rauschens“ und einer zu hohen Anzahl von Fluktuationen in dieser frühen Wahrnehmung dadurch begegnet, dass die visuelle Information durch Filter ausgeglichen wird. So geschieht das Auffinden von Kanten im Bild nicht nur durch die Identifizierung von Extrema (ein Minimum neben einem Maximum), sondern gleichzeitig wird in einer mehr oder weniger lokalen Umgebung ein Durchschnitt berechnet, der kleinere Fluktuationen ausblendet. Je grösser die Umgebung, desto breiter der Filter und desto höher der Ausgleich. Solche Annahmen werden nicht nur durch die Logik des kognitiven Modellierens der Sehfähigkeit motiviert, sondern auch durch das Vorhandensein von Neuronen in unseren Hirnen, deren Rezeptionsbereich genau für eine solche „grobe“ Wahrnehmung zuständig ist. Das Trennen verschiedener Wahrnehmungsebenen und das Filtern derselben bedeutet, formal gesehen, einen Akt der Abstraktion. Wenn man diesen Akt mit dem üblichen Verständnis von Abstraktion in der Kunst vergleicht, so ergibt sich ein auf den Kopf gestelltes Bild: Speziell im Kanon der amerikanischen Kunstkritik wir Abstraktion ja als eine Art evolutionäre Entwicklung weg von der figurativen Darstellung hin zu einem „reinen“ Bild verstanden, als weiter gehende Konsequenz, von der Fähkigktiet der Repräsentation einer Aussenwelt zur Repräsentation des Bildes als pures Kunstwerk zu gelangen. Geht man hingegen von der oben beschreibenen Modellierung unserer Sehfähigkeit aus, ist Abstraktion eine Voraussetzung dafür, überhaupt zu einer Repäsentation zu gelangen, von der Inhalte wie Objekte oder deren Bewegungen ablesbar sind. Sie dient wie ein unmittelbarer erster Reflex dazu, dem visuellen Input eine Robustheit zu verleihen, ohne die wir einerseits im Dschungel von zu vielen Details verloren gehen würden, ohne die wir aber andererseits nicht imstande wären, aus zu wenig Input die ganze dreidimensionale Welt zu rekonstruieren. Sie lässt sich hier als ein erster Schritt beschreiben, als ein Treffen von Annahmen über die Welt, ohne die wir gar nicht beginnen können, diese zu interpretieren. In dem Sinne, in dem Abstraktion hier Voraussetzung ist, kann sie nicht Reduktion sein.
Ein erses Indiz dafür, dass es in den Gemälden, Photographien und Videos von Sarah Morris um Abstraktion in diesem nicht reduktionisitischen Sinne geht, ist der unmittelbare Eindruck, dass es in ihren Arbeiten trotz der formalen Beschränkungen keine Konzentration oder Destillation von schon vorhandenen Inhalten gibt. In klassischen Videoarbeiten der 70er und 80er Jahre entsteht oft durch Wiederholung oder spezifischen Perspektive eine (manchmal quälende) Kontemplativität, ein ruhiger Zirkel, in den man sich versenken kann oder muss. In einer Videoarbeit wie MIDTOWN (2000) scheint es zunächst auch so etwas wie eine rhythmische Wiederholung bestimmter Einstellungen zu geben. Die ganze Arbeit deutet aber permanent dahinter liegende Inhalte an, an die sich die visuellen Momente erst heranarbeiten wollen. Beim Zusehen entsteht der Wunsch, endlich zu diesen zu gelangen, was aber von der Künstlerin in den raschen formalen Abfolgen verwehrt wird. Die einzelen Bilder gleiten über Details und werden zu Metaphern von etwas, das sich noch nicht wirklich zeigt, das unausgesprochen bleibt, obwohl es permanent erzeugt wird. Menschen und ihre architektonische Umgebung werden in derselben Arbeit gezeigt, ohne dass die Menschen zueinander oder zu ihrer Umgebung gelangen und eine Ganzes bilden. Die Menschen bleiben untereinander genauso isoliert wie die Gebäude und ihre Details: Weder die Stadt noch die in ihr lebende Gesellschaft kann sich im Film manifestieren. In der Arbeit APITAL (2000) ist die inhaltliche Seite noch deutlicher, das Motiv des grössten Machtzentrums noch sichtbarer und expliziter; trotzdem gibt es niemals eine Verankerung des Visuellen in diesem Inhalt, der Film ist so sein eigener Trailer, selbstständig und doch von sich abhängig. Selbst die beladensten Motive wie das Oval Office, der amerikanische Präsident oder die Redaktionsräume der Washington Post reihen sich in die anderen Szenen in einer Art ein, die sie eher neutralisiert als sie in einen narrativen Zusammenhang zu stellen. Es werden so aber auch keine Bruchstücke oder Fragmente von Inhalten gezeigt, wie so oft im modernen Avantgardefilm. Die Szenen blenden ruhig ineinander über und haben eine gewisse automatistische Geschlossenheit, die erst im formalen Kontext wieder verloren geht. In beiden Filmen bearbeitet Morris das Thema Urbanität und Gesellschaft in dem oben beschriebenen, vorbewussten Sinne: Menschen und Architektur werden als noch bedeutungslose physische Objekte von aussen abegtastet, es gibt keine Protagonisten im üblichen Sinn und die Zusammenhänge, die für die Bedeutung notwenndig wären, sind noch nicht vorhanden. Ihr Umgang mit dem Thema kann stellenweise als Umkehrung von Benjamins Moderne gelesehn werden: Wo bei ihm Technik und Architektur störend in sein biographisches und sehr privates Narrativ eindringen, sind es bei Morris genau diese Faktoren, die narrative Elemente (vielleicht) erst ermöglichen.
Die Malerei der Sarah Morris scheint auf einen ersten Blick der Pop-Art verpflichtet: Speziell in den Arbeiten Mitte der 90er Jahre wird die Oberfläche von Motiven oder Schriftzügen, die an die alltagskulturellen Bezüge dieser Zeit erinnern, derart in den Vordergrund gestellt, dass eine autonome Fläche Inhalte relativiert und eigene Regeln aufstell. Die Worte auf den Bildern – JOHNNY, NOTHING – haben genauso wie die Motive – SUNGLASSES, HIGH HEELS (BLUE) – in ihrer Isolation und Arbitrarität jedoch nichts mehr von der augenzwinkernden Transgression eines Indiana oder Warhol an sich. Wiederum ergeben sie auf der inhaltlichen Ebene keinen Diskurs, im Höchstfall lassen sie als Zitate eine historische Referenz zu. Auch formal scheinen sie in ihrer cleanen Neutralität nicht an irgendwelche spezifisch malerischen Probleme anknüpfen zu wollen, sondern sich vom Medium unabhängig mit Bildern auseinander zu setzen. Die Schrift wird nicht durch irgendwelche Fragmentierungen oder Verzerrungen verfremdet, sondern sie ist so ausfüllend ins Rechteck gesetzt, dass sie sich nicht mehr auf diesem befindet und es sozusagen erst zusammenhält. So werden die Bilder nicht in Vordergrund und Hintergrund aufgeteilt, die Räume zwischen den Buchstaben sind gleichberechtigte Flächen, das Tafelbild als Objekt wird zum Verschwinden gebracht. Diese Randlosigkeit wird zum immer zentraleren Moment in der Malerei von Sarah Morris. Die Künstlerin spricht vom Thema Zerstreuung als einer Strategie, um zu Dingen zu gelangen, die wir normalerweise nicht sehen. Die Strukturen und Texturen formen sich zwar niemals zu Objekten, sie sind aber auch nicht blosses Ornament, da sie sich in ihrer Anordnung nie an das Format des Bildes halten und auf einen zweiten Blick immer eine Profektion über Ränder hinaus evozieren. Auch in den Architekturbildern der späten 90er Jahre gibt es keine Objekte, das Erkennen kann keinen Weg vom Gesamten ins Detail nehmen, nur umgekehrt. Die Streifen sind eben nicht einfach die Pfade des Pinsels auf der Leinwand, die nur in die Malerei führen, es geht nicht darum, Bedeutung aus dem Bild zu verdrängen, es geht im Gegenteil darum, den Weg zur Bedeutung zu beschreiben – den Zustand davor. Wenn wir in einer Lichtreflexion ein Gebäude nicht wirklich als Gesamtheit sehen, so können wir doch schon einen Teil der Geschichte, ohne eine eigenständige Bedeutung zu haben. Zertreuung ist hier nicht so sehr die Teilung eines Ganzen, sondern eher das Herausarbeiten der Teile, die das Ganze erst sichtbar machen. Las Vegas, das in den Arbeiten der Künstlerin eine grosse Rolle spielt, ist ein gutes Beispiel für diese komplexe Vernetzung: Als Objekt mit Grenzen ist die ganze Stadt eigentlich nur erkennbar, wenn man in der Nacht aus der Wüste auf sie zufährt und sie den Eindruck einer Kolonie auf einem fernen Planeten vermittelt. Befindet man sich einmal in der Stadt, ist es fast unmöglich, die diskreten Objekte als solche direkt auszumachen. Alles scheint voneinander abhängig zu sein, da sind nicht Gärten, in denen Gebäude stehen, sondern die Gebäude erweitern sich zu Gärten und die Lichtinszenierung und ununterbrochene Spiegelung verstärkt noch den Eindruck einer allumfassenden Umwelt am Rande des Amorphen. So wie in utopistischen Architekturphantasien der Moderne verschmilzt Natur und Technik, Öffentliches und Privates zu einer ununterscheidbaren, pulsierenden Masse. Genau diese Form der Wahrnehmung findet sich auch in den Bildern von Sarah Morris wieder: Verflechtungen, die eine Perspektive andeuten. ohne dass wir wissen, wovon; Schrägen, denen die Gerade als Orientierung fehlt, und Farben, deren Quellen oder Ziele im Off bleiben. Beim Betrachten der Bilder werden reflexartige Zusammenhänge hergestellt, die sich aber dann – zumindest im Bild – an nichts festmachen lassen. Konstruktion von etwas, was noch nicht vorhanden ist und dennoch nicht in einem Nebel liegt, sondern klare, deutliche Strukturen besitzt. Konstruktionen von etwas, was in seiner Gesamtheit eine grosse visuelle Komplexität besitzt, die es uns vielleicht nicht mehr erlaubt, die deutlichen Strukturen zu sehen, ohne die wir aber niemals zu einer Gesamtheit glangen können. Genau in diesem Sinne ist die Abstraktion in den Arbeiten von Sarah Morris kein Weggehen von der figurativen Bedeutung, sondern der Weg, der fast zu ihr führt.